Donnerstag, 1. September 2011
Die Ebene
Dort steht sie: Vorne an der Klippe. Vor ihr die neblige Schlucht. Hinter ihr diese Ebene. Sie schaut sich um: Es ist hüglig. Teilweise liegen Steine herum. Sie sieht den Pfad, den sie gelaufen ist. An manchen Stellen ist er eben und gerade. An anderen Stellen steinig, fast unpassierbar, aber man sieht, irgendwie hat sie es geschafft die Hindernisse hinter sich zu lassen. Es scheint ein mildes Licht, nicht zu hell, aber auch nicht zu dunkel. Sie schaut sich um und sieht sich dieses Plateau an, sie weiß ganz genau, es ist nicht ihr Traum. Sie erinnert sich gut an manchen der Wege. Erinnert sich an ihre Gedanken und Ängste. Sie erinnert sich an diese Sehnsucht nach Stärke und Stütze. Nach jemandem der mit ihr auf der Ebene geht, ihr über den ein oder anderen Stein die Hand gehalten hätte, so dass sie ihn hätte ein klein wenig leichter erklimmen können. Sie lächelt ein wenig, denn dieses letzte winzig kleine Stück der Ebene ist eben und bewachsen mit einer weichen Wiese, es scheint beinahe so als sei sie gar nicht wirklich darüber gelaufen. Wirkt fast als haben ihre Füße das hellgrüne Gras kaum berührt. Sie erinnert sich an diese unglaubliche Leichtigkeit des letzten kleinen Stückes. Sie fragt sich warum nicht einfach diese Wiese weiter gehen kann. Diese Wiese, aber im Schutze ihres bekannten Plateaus. Aber sie weiß das würde nicht gehen, auf ihrer Ebene gibt es immer nur kleine Stücke Wiese. Hinter diesen befindet sich immer eine Klippe an der sie nur zwei Möglichkeiten hat, entweder zu springen, oder sich umzudrehen und auf ihrem Plateau zu bleiben. Sie kann sich noch ein wenig auf der Wiese aufhalten, aber auf der Ebene gibt es nicht genügend Nährstoffe, so dass sie lange blühen und weich bleiben könnte. Nach einer Weile wird sie strohig und unbequem, dann ist auch dort bald wieder nur eine Ebene mit Steinen in einem gedämpften Licht. Das weiß sie.
Nun steht sie dort an dieser Klippe. Sie stand schon öfter an solchen Klippen, aber diese scheint anders. Hinter ihr liegt sie. Die Ebene. Sie ist nicht das was sie sich wünscht, aber sie hat einen entscheidenden Vorteil: Sie ist halbwegs sicher. Es gibt keine Klippe. Es gibt immer wieder kleinere Gruben und größere Felsen, aber im Großen und Ganzen ist die Ebene sicher. Umrandet von einem seichten Fluss, der um die sie herum fließt. In diesem kann man nicht ertrinken, aber er trägt einen auch nicht zu einem Ziel. Die Ebene ist nichts Besonderes und das Licht ist nicht besonders hell, aber sie ist sicher. Sie weiß, dort kann ihr nichts passieren, sie kann nicht fallen. Vor ihr aber, liegt diese unbekannte Tiefe. Sie kann nicht erkennen was sie dort erwartet. Es ist nebelig. Undurchschaubar. Sie erkennt nur dieses gleißende Licht zu dem sie sich hingezogen fühlt. Sie steht vor der Wahl. Sie weiß, sie will dieses Licht. Sie will das Ungewisse. Sie weiß, wenn überhaupt, dann kann nur das Ungewisse für sie bereit halten was sie sich schon als kleines Mädchen erträumt hat. Die Ebene hat das nicht, das weiß sie, denn sie kennt die Ebene gut. Sie birgt nicht ihren Traum, aber sie ist sicher. Sie schaut wieder in den glänzend hellen Nebel. Sie kann nicht erkennen was sie dort erwartet. Ein weiches Netz in welches sie fällt und wo sie von tausenden Federn umschlossen wird? Unwahrscheinlich, dies ist schließlich kein Märchen. Vielleicht eher eine moosbedeckte sonnenbeschienene Wiese, umringt von hohen dichten Wäldern, auf der es regelmäßige Regenschauer gibt, aber auch viel Sonnenschein. Eine Wiese auf der sie landet, sich wohl und geborgen fühlt und weiß dort gehört sie hin? Oder ist dort einfach eine weitere Ebene? Ein neues völlig unbekanntes Plateau mit Klippen und Steinen, wo sie hart aufschlagen wird und sich erneut ganz allein, völlig orientierungslos und ohne Schutz hindurch kämpfen muss? So lange, bis sie wieder an solch einer ungewissen Klippe steht, oder aber letzten Endes die Kraft verliert und in dem seichten Fluss bleibt und sich treiben lässt bis dieser und auch sie selbst irgendwann austrocknet? Vielleicht ist dort aber auch etwas völlig anderes? Etwas das völlig fern ihrer Vorstellungskraft liegt? Sie fragt sich: Was ist die richtige Entscheidung? Sie weiß es nicht. Aber sie weiß auch, dass sie es nie wissen wird. Sie weiß, das was sie sich so sehr wünscht, bekommt sie nur wenn sie sich dem Ungewissen hingibt. Sie schaut sich wieder zu ihrem Plateau um. Dieses Plateau, das sie kennt. Ihr Fluss, dem sie sich im Zweifel hingeben kann und der sie an die richtige - oder zumindest eine andere - Stelle treibt falls mal wieder ein Geröll zu steinig ist. Sie schaut sich ihre Ebene an, dann dreht sie sich herum, schaut nach unten in den Nebel. Schaut in das Licht. Sie zögert. Schaut sich noch einmal zu ihrer Ebene um, dann in den Abgrund. Sie lächelt…und sie springt…

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